STIMME, ATMEN – Vortrag, KOFOMI, Komponistenforum Mittersill (2008)

Mein Zugang zum Thema „Stimme, Atmen“ geht zurück auf meine Beschäftigung mit buddhistischer Meditation und einem Studium der japanischen buddhistischen Liturgie in Kyoto. In der buddhistischen Praxis wird dem Atem eine große Aufmerksamkeit entgegengebracht. Er wird als ein geschicktes Mittel verstanden, mit dessen Hilfe man die Selbsttäuschung zu überwinden lernt. Der Buddha lehrte vom Wert der Achtsamkeit auf den Atem im Anapanasatti Sutra – dem Sutra des bewussten Atmens:

„Da ist hier, o Mönche, der Mönch in den Wald gegangen, an den Fuß eines Baumes oder in eine leere Behausung. Er setzt sich nieder, mit verschränkten Beinen, den Körper gerade aufgerichtet, die Achtsamkeit vor sich gegenwärtig haltend, und achtsam eben atmet er ein, achtsam atmet er aus.

  1. Bei einer langen Einatmung weiß er: Ich atme lang ein. Bei einer langen Ausatmung weiß er: Ich atme lang aus.
  2. Bei einer kurzen Einatmung weiß er: Ich atme kurz ein. Bei einer kurzen Ausatmung weiß er: Ich atme kurz aus.
  3. Ich atme ein, meinen ganzen Körper bewusst wahrnehmend. Ich atme aus, meinen ganzen Körper bewusst wahrnehmend. So übt er sich.
  4. Ich atme ein, meinen Körper ruhig und friedvoll werden lassend. Ich atme aus, meinen Körper ruhig und friedvoll werden lassend. So übt er sich.
  5. Ich atme ein, ein Gefühl der Freude empfindend. Ich atme aus, ein Gefühl der Freude empfindend. So übt er sich.
  6. Ich atme ein, die Aktivitäten des Geistes in mir bewusst wahrnehmend. Ich atme aus, die Aktivitäten des Geistes in mir bewusst wahrnehmend. So übt er sich.
  7. Ich atme ein, die Aktivitäten meines Geistes ruhig und friedvoll werden lassend. Ich atme aus, die Aktivitäten meines Geistes ruhig und friedvoll werden lassend. So übt er sich.
  8. Ich atme ein, die unbeständige Natur aller Dinge beobachtend. Ich atme aus, die unbeständige Natur aller Dinge beobachtend. So übt er sich.
  9. Ich atme ein, das Loslassen betrachtend. Ich atme aus, das Loslassen betrachtend. So übt er sich.

Die Dinge in ihrem Entstehen betrachtend, weil er beim Körper, die Dinge in ihrem Vergehen betrachtend, weilt er beim Körper.
Ein Körper ist da, so ist seine Achtsamkeit gegenwärtig, eben nur soweit es der Erkenntnis dient, soweit es der Achtsamkeit dient. Unabhängig lebt er, und an nichts in der Welt ist er angehangen.“
Diese Lehrrede, die im Original um vieles länger ist, kennzeichnet sich durch beständige Wiederholungen, damit weist es darauf hin dass es der Atem ist und dessen Rhythmus welcher sich von allen Körperrhythmen am stärksten in unser Bewusstsein hebt. Die Atmungsachtsamkeit dient hierbei dem wirklichkeitsgemäßen Erfassen des Körpers. Wie im mythischen Denken der Atem mit dem Lebensprinzip selber gleichgesetzt wurde, so gilt nach buddhistischer Überlieferung die Atmung als der Hauptrepräsentant der Körperfunktionen. In der Flüchtigkeit der Atemzüge erfassen wir die Vergänglichkeit des Körpers, in der Abhängigkeit des Atems von bestimmten Körperorganen und andererseits der Abhängigkeit des lebenden Körpers von der Atmung erfassen wir die mannigfache Bedingtheit des Körpers, im schweren Atem oder der Atemstörung erfassen wir die Leidhaftigkeit des Körpers und im Atem als einer Manifestation des Wind oder Bewegungs-
Elementes erfassen wir die unpersönliche Natur des Körpers.

Einatmend weiß ich dass ich einatme, ausatmend weiß ich dass ich ausatme. Ein, aus, ein, aus. Sich in solcher Weise zu üben bedeutet zu erst einmal aufzuhören, d.h. unsere motorische Geschäftigkeit zu stoppen, den inneren Dialog zu unterbrechen oder die eventuellen Tagträume zu zerstreuen. Das Wissen vom Ein- und Ausatmen, also das Beobachten des Atemvorganges führt den Übenden zurück in die Realität des gegenwärtigen Augenblicks, in das Hier und Jetzt und damit auf die einzige Seinsebene worauf das Erwachen aus der Täuschung nach buddhistischer Sicht möglich ist.

Mit Samatha und Vipassana wurden uns zwei grundlegende Typen von Atemmeditation überliefert. In der Samatha Meditation soll die Geistesaktivität zur Einspitzigkeit geführt werden. Der Atem wird dabei nicht in seinem ganzen Fluss wahrgenommen, sondern auf zwei kleinen Punkten, dort wo die ein aus ausströmende Luft im inneren der Nase die Haut berührt. Diese Übung führt zur Sammlung und Vertiefung der Geistesruhe. Ihren besonderen Wert als Vorbereitung bekommt sie aber erst in der Verbindung mit dem zweiten Meditationstypus, der Vipassana oder Klarblicksmeditation. In der Vipassanaübung wird die Gewahrsamkeit auf den Atem aber ebenso auf alle anderen Wahrnehmungen gerichtet. Was immer im Bewusstsein am stärksten hervortritt, seien es Gedanken, Gefühle oder Sinneseindrücke, soll mit dem „Reinen Beobachten“ begegnet werden. Das so genannte „Reine Beobachten“ heißt deswegen so weil sich dabei der Beobachter dem Objekt gegenüber rein aufnehmend verhält, also ohne mit dem Gefühl, Willen oder Denken bewertend Stellung zu nehmen. Sie ist eine Schulung in der Freiheit des Lassens und eine Analyse der Wirklichkeit. Gleichzeitig dient sie aber auch der Weckung und Verfeinerung der Intuition. Die Hauptfunktion des „Reinen Beobachtens“ ist also die Gewinnung eines „Reinen Objektes“ ohne Beimischung und ohne Ich-Bezogenheit. Die gleiche Absicht verfolgt jene Übungsanweisung des Buddha an den Mönch Bahiya: „Das Gesehene soll lediglich ein Gesehenes sein, das Gehörte lediglich ein Gehörtes, das Empfundene lediglich ein Empfundenes und das Erkannte lediglich ein Erkanntes.“

Die Dinge in ihrem Entstehen betrachtend und die Dinge in ihrem Vergehen betrachtend. Der Atem dient dabei in etwa als ein Taktstock auf den der Übende immer wieder zurück kommt um ein abgleiten der Achtsamkeit zu verhindern und um Gedanken und Gefühlsverstrickungen entgegenzuwirken. Es gehört zum Charakter der Klarblicks- Meditation, die Dinge der Innen- und Außenwelt als „reine Vorgänge“ d.h. als unpersönliche Prozesse zu erkennen und in solcher Erkenntnis zeitweilig frei zu sein von Gier, Hass und Verblendung.

Im Laufe der vielen Jahrhunderte buddhistischer Kultur haben sich verschiedene Atem-Achtsamkeitstechniken verbreitet. Vom einfachen zählen der Atemzüge für den Anfänger oder besonders unruhigen Geist, zur Beobachtung des Atems in Form der Bauchdeckenbewegung. Oder in seinem ganzen Atemfluss mit Betonung der Anfang und Endphasen und der kurzen Bewegungsfreien Momente zwischen den Atemzügen. Bis hin zur Beobachtung des gekoppelten Atems mit der Fußbewegung bei der Gehmeditation. Jeder Schritt ein Atemzug.

Bei fortgesetzter Übung wird Eine Erfahrung im Geiste des Meditierenden besonders einprägsam: die Endphasen jeder Ein oder Ausatmung werden besonders deutlich und eindrucksvoll, während die anderen Phasen zurücktreten. Die Trennungslinie zwischen dem Ende des einen und dem Beginn des folgenden Prozesses wird sehr markant. Durch das von Moment zu Moment erfahrene Erlebnis des Schwindens und Vergehens, des momentanen Todes dieser Einzelvorgänge, wird das Daseinsmerkmal der Vergänglichkeit zur unmittelbaren Erfahrung.

Eine andere Erfahrung bei der Übung ist, das dabei zwei unterschiedliche Vorgänge ablaufen: der körperliche Vorgang des Atmens und der geistige Vorgang der achtsamen Feststellung oder des Wissen vom Atem. Doch diese Vorgangsweise, die auf die Belehrungen des historischen Buddha zurückgehen, haben nicht so ihre Fortsetzung in Ostasien gefunden. Der Zen Buddhismus unternahm eine grundlegende Veränderung. Dabei wird der Atem nun nicht mehr beobachtet, sondern man ist der Atem. „Sei voll und ganz Atem“ heißt dabei die Meditationsanleitung. Der Beobachter wurde also weggenommen. Statt der Absicht, mit Hilfe der Atembeobachtung, das Ego als Illusion zu durchschauen, realisiert der Zenübende nun die Einheit von Geist und Körper im Vollzug des Atems. Der Atem wird ihm zum Tor zur Soheit. Ebenso wie das Hören von Klängen.
Dem Hören an sich wird im buddhistischen Kulturen ebenso eine große Bedeutung beigemessen. Jenen Sinn der bereits vor der Geburt Töne aufnimmt und noch nach dem Tode wirkt. So wird im Surangama Sutra berichtet:

„Das Auge durchdringt keine Schranken, nicht der Mund und nicht die Nase.Durch Kontakt nur empfindet der Körper, Gedanken sind wirr und zerrissen. Doch die Stimme, nah oder ferne, kann immer, beständig man hören.Die fünf anderen Organe sind unvollkommen, alldurchdringend allein ist das Hören.Das „Sein“ oder „Nichtsein“ von Laut und Stimme registriert das Ohr als „ist“ oder „fehlt“.Da wo kein Laut ist, wird nichts gehört, Nichthören ist leer von Natur.Fehlen des Lautes heißt nicht Ende des Hörens.Vorhandener Laut, nicht des Hörens Beginn.

Das Hören lebst ist von ständiger Dauer, gehört wird von dem, was entsteht und vergeht.Und selbst wenn im Traum sich Ideen bilden, obgleich man nicht denkt, Gehör bleibt besteh’n. Denn die Hörfähigkeit ist jenseits des Denkens und reicht hinaus über Geist und KörperWer des Hörens Natur nicht durchschauen kann, folgt dem Laut und wird wiedergeboren.“

In Japan wurde aus dem Hören vom Klang des Atems eine über tausend Jahre alte meditative künstlerische Disziplin. Shomyo, der Gesang-Weg wurde zur Verlautbarung der stillen Meditation gemacht. Der Name Shomyo leitet sich ab vom ursprünglichen Sanskrit Begriff „Sabda Vidya“ – der alten vedischen Wissenschaft der Wörter und Klänge, welche eine der fünf Studien der Brahmanen war.

Den Anfang soll diese Tradition in Südchina genommen haben, wo sich am Yü Shan, dem Fischberg, das Zentrum des buddhistischen Ritualgesanges entwickelte. Im Wesentlichen bestanden die dort entstandenen Hymnen aus lang gezogenen Einzeltönen und kurzen melodischen Wendungen. Obwohl in ihrem Ursprungsländern Indien und China lange schon verschollen konnte diese Gesangstradition in Korea und Japan, wohin sie zwischen dem 6. und 7. Jhdt. Überliefert wurde, bewahrt bleiben.

Man kann annehmen dass die Entwicklung des buddhistischen Ritualgesanges weniger auf die Kreationen einiger einzelner zurückzuführen ist, sondern vielmehr auf die kollektiven Schöpfungen der Praktizierenden. Da es in der Natur dieser Gesänge liegt einen überpersönlichen Ausdruck zu kultivieren, ist auch durchaus vorstellbar, dass sich die Kompositionen von unpersönlichen Prozessen her ableiten. Der chinesische Mönch Hsuan-Tsang, der in den Jahren 629-645 nach Indien reiste, berichtete in seinem Reisetagebuch von einem zentralasiatischen Brauch. Einmal im Jahr versammelte sich der Weisenrat vor einer Quelle. Während der, von Astrologen exakt festgelegten Zeitspanne, lauschte man mit großer Aufmerksamkeit den Geräuschen der Wassertropfen. Die Melodie die sie dabei hörten wurde darauf, für ein Jahr, die Melodie des Landes.

In Japan bemühte man sich ohne Reformen die überlieferten Gesänge möglichst getreu fortzusetzen. Verstanden als eine Praxis die gleichermaßen Körper, Rede und Geist zur Aktivität der Buddha-Natur werden lässt. Die Töne werden extrem lang gedehnt gesungen, so dass deren Inhalt gedanklich schwer nachvollziehbar wird, dafür aber die Einspitzigkeit des Geistes ermöglicht. Das Singen zielt auf die Auflösung des Zeitbewusstseins – diese Nicht-Zeit muss darum der inneren Zeit angepasst sein, dem inneren Rhythmus, der Atemfrequenz und dem Herzschlag. Die Melodien sind eine Ansammlung vorn stereotypen Motiven, die mosaikhaft aneinander gefügt werden. Jedes Motiv ist in seiner Form festgelegt und hat einen Namen. Jede Shomyoschule hat ihr eigenes Repertoire solch melodischer Fragmente. Die Sprachen der Texte variieren innerhalb dreier großer Typen: Sanskrit, Chinesisch und Japanisch. Ebenso wechselt das Tonsystem von Pentatonischen Fünftonskalen zu sieben Tönen oder einem Micro-Ton-System. Die Notation wird „Hakase“ genannt. Eine visuelle Aufzeichnung, die durch gerade oder gebogene Linien und deren Kombinationen erfolgt und auf einer ähnlichen Konzeption wie die Neumennotation des Gregorianischen Chorals beruht.

Über die ästhetischen Kriterien des Shomyogesanges lässt sich sagen, das Schönheit, vom buddhistischen Standpunkt, keinesfalls einfach das Gegenteil von unschön sein kann. Das wäre nicht mehr als eine dualistische Vorstellung. Wirkliche Schönheit existiert in jener Sphäre die der Unterscheidung zwischen schön und hässlich vorausgeht. Gleichwohl bildeten sich in Japan ästhetische Prinzipien heraus die auf alle künstlerischen spirituellen Disziplinen angewandt wurden. Deren vier Komponenten bedeuten für den Shomyo-Weg: WA oder Harmonie – entsteht zwischen Sänger und Hörer; KEI Respekt – bezieht sich auf eine Musik die transpersonalen Prinzipien, der Natur des Seins, dient; SEI Reinheit – zielt auf eine Musik als Ritual, das die Herzen reinigt; JAKU Stille und Schlichtheit – drücken sich in minimalistischen Melodien und im ruhigen Fluss der Klänge aus. Diese Faktoren führen zu einer Beschränkung, die auf die Qualität des einzelnen Tones achtet und dabei Meister Rinzai’s Belehrung berücksichtigt: „In die Stimme eingehen und doch nicht von ihr betört werden“. Der bewusste Verzicht auf klangliche Verführung bedeutet das Shomyo auch nur bedingt publikumsorientiert sein kann. Es verlangt eine andere Art des Zuhörens. Nach einem Lauschen das nicht unterscheidet und sich mit dem Gehörten nicht identifiziert. Einem Lauschen, das einen unbewegten Geist ermöglicht in dem jeder Klang zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurückkehren kann.